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1996-2016, 20 Jahre Verlag Karin Kestner

Im Dienste der Deutschen Gebärdensprache

Anfang der 1990er Jahre, lange vor der Anerkennung der Deutsche Gebärdensprache, lernte Karin Kestner mühsam die Deutsche Gebärdensprache und begann ihre Tätigkeit als Gebärdensprachdolmetscherin. Aus ihren eigenen Erfahrungen mit den „blauen Büchern“ und einigen VHS-Kursen dachte sie, dass es doch bessere Möglichkeiten geben müsste, Gebärdensprache zu erlernen. Die Ära der PCs stand mit sogenannten „IBM kompatiblen 286ern“ und dem Umbruch von Windows 3.11 zu Windows 95 noch ganz am Anfang. Es war noch fast unvorstellbar, dass jeder Mensch einen eigenen Computer haben könnte, geschweige denn in wenigen Jahren in seiner Hosentasche immer dabei haben würde. Trotzdem wagte sie den Schritt ein Computerprogramm zu entwickeln, in dem sich jedermann zu Hause die Gebärden in einem Video so oft vorführen lassen konnte, bis er sie gelernt hatte. Das Lernprogramm „777 Gebärden“ war geboren und wurde ab 1996 im Verlag Karin Kestner verkauft.

Schnell wurde das Programm weiterentwickelt und alle, zuerst schwarz-weißen, Videos in Farbe neu gedreht. Bald kamen die Erweiterungen „777 Gebärden 2 und 3“ auf den Markt. Sogleich riefen hörende Eltern von gehörlosen Kindern an, wie denn ihre Kinder Gebärdensprache lernen könnten. Sie hatten gegenüber CODAs einen so großen Rückstand in der Kommunikation und mussten sich mühsam die Gebärden auf dem Schulhof abschauen. So entstand 1999 der Plan ein Gebärdensprachlernprogramm für kleine Kinder und deren Eltern zu entwickeln. Geht nicht gibt’s nicht. Auch hier war Karin Kestner wieder eine Pionierin. Nach gründlicher Recherche über den ersten Kinderwortschatz und einen kindgerechten Zugang zu Software wurde „Tommys Gebärdenwelt“ unter großer Beachtung der Fachwelt veröffentlicht, weltweit das einzige Gebärdensprachlernprogramm für Kinder. Erstmals konnten selbst die kleinsten Kinder intuitiv, ohne lesen zu können, auf schöne, bunte Bilder klicken und sich selbst einen ersten Gebärdenwortschatz erarbeiten. Das Lernprogramm wurde begeistert von Eltern und Kindern aufgenommen und ist bis heute der Standard in der gebärdensprachlichen Frühförderung von Kindern. Die Kosten werden sogar von den Krankenkassen übernommen. Schnell folgten auch hier die Erweiterungen „Tommys Gebärdenwelt 2 und 3“.

1999, als die wichtigste Suchmaschine noch Altavista hieß, Google gerade aus den Kinderschuhen kam und Yahoo ein händisch gepflegtes „Internetverzeichnis“ war, ging die erste Webseite des Verlages mit einem 56k Modem online, gelb-goldene Schrift auf schwarzem Hintergrund.

In Deutschland gab es für gehörlose Kinder praktisch noch keine Frühförderung in Gebärdensprache, geschweige denn irgendeine andere Unterstützung für einen gebärdensprachlichen Weg von Eltern, die ihrem Kind nicht ein CI implantieren lassen wollten. Im Gegenteil, die hilflosen Eltern wurden alleine gelassen und vehement vor „der Gebärde“ gewarnt, sie könne die lautsprachliche Entwicklung behindern. Diese Mythen sind längst alle wissenschaftlich widerlegt, aber halten sich zum Teil bis heute hartnäckig. Tommys Gebärdenwelt war praktisch das einzige gebärdensprachliche Angebot für Eltern mit hörgeschädigten Kindern. So kam es, dass sich seit 2000 immer mehr allein gelassene Eltern hilfesuchend an Karin Kestner wandten und sie die Eltern auf ihrem gebärdensprachlichen Weg auch über Tommys Gebärdenwelt hinaus unterstützte. Viele Jahre war das Web www.kestner.de praktisch das einzige Gegengewicht gegenüber der machtvollen industriellen, medizinischen und institutionellen CI-Lobby, um Risiken und Alternativen aufzuzeigen. Neben ihrer Tätigkeit als Gebärdensprachdolmetscherin und dem Verlag entstand so gegen alle Widerstände und trotz mancher Anfeindungen das große Feld ihrer ehrenamtlichen „Elternhilfe“, das im Laufe der Jahre den größten Teil von Kestners Arbeit einnehmen sollte. Aus dieser Aufklärungs- und Unterstützungsarbeit entstand in Zusammenarbeit mit Olaf Fritsche auch ihr Buch „Diagnose Hörgeschädigt“, in dem sie das ganze Spektrum der Hörschädigung beleuchtet und welches als Standardwerk für Eltern gilt, die sich erstmals mit dem Thema Hörschädigung auseinandersetzen wollen.

Ab 2002 wurde mit der Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache im Behindertengleichstellungsgesetz der Weg für alle Gebärdensprachnutzer etwas leichter.

2005 hat der Verlag das Thema Babyzeichen mit dem Buch „Kleines Wörterbuch der Babyzeichen“ von Vivian König in Deutschland auf den Markt gebracht. Als Verlag für Deutsche Gebärdensprache wurde dabei besonders darauf geachtet, für die Babyzeichen die original Gebärden der Deutschen Gebärdensprache zu verwenden, um auch hier einen hohen Integrationsgrad und keine „Insel“ zu schaffen. So können die Bücher, insbesondere „Das große Buch der Babyzeichen“ mit vielen Spielanleitungen auch wunderbar in der Frühförderung von hörgeschädigten Kindern eingesetzt werden.

Im Laufe der Jahre wurde auch der Verlag immer weiter ausgebaut. Einen erheblichen Anteil der Entwicklungsarbeit nimmt die permanente Pflege und Weiterentwicklung sämtlicher Softwareprogramme ein. Windows 98 – 10, OS X 10.2 – 10.12, iOS 4 – 10, Android 2 – 7, etc. Die Betriebssystemhersteller Microsoft, Apple und Google nehmen oft wenig Rücksicht auf Kompatibilität, was zur Folge hat, dass einige Programme zum Teil mehrmals komplett neu entwickelt werden mussten oder zumindest immer wieder erheblich angepasst und weiterentwickelt werden müssen. All dies war nur durch den Einstieg von Tiemo Hollmann in den Verlag 2006 möglich, der bis heute das gesamte operative Geschäft von der Entwicklung bis zum Vertrieb leitet.

Auch mit „Manuel und Mira“ und „Alessa findet neue Freunde“ war der Verlag Karin Kestner wieder ein Vorreiter und brachte die ersten multimedialen Kindergeschichten mit Gebärdensprache auf den Markt, in denen bebilderte Kindergeschichten in Gebärdensprache mit Videos, gefilmt mit Bluescreentechnik, erzählt wurden. Bald folgten auch hier weitere schöne Kindergeschichten-Klassiker in Gebärdensprache, vom Regenbogenfisch bis zu Lars dem kleinen Eisbär, die viele Kinder bis heute begeistern.

Langsam gab es ein Umdenken in der Gesellschaft. Erste Eltern wollten ihre gehörlosen Kinder mit gebärdensprachkompetenten Begleitern in den Regelkindergarten und später mit Gebärdensprachdolmetscher in die Regelschule bringen. Da dies besonders in den Anfängen ein sehr steiniger Weg gegen alle Widerstände war und es kaum jemanden in Deutschland gab, der damit Erfahrung hatte, geschweige denn alle notwendigen Paragraphen und Argumente kannte, um diesen Weg durchzusetzen, wandten sich auch hier wieder die Eltern ratsuchend an Karin Kestner. Bis heute hat sie mehreren Duzend Eltern ehrenamtlich durch alle Instanzen hindurch erfolgreich geholfen, ihre Kinder in die Regel-Kindergärten bzw. -Schule zu bringen. Streckenweise eine Aufgabe, die alle anderen Tätigkeiten in den Hintergrund stellte und an die Grenze ihrer Kräfte und darüber hinausging.

Die Webseite kestner.de wurde im Laufe der Jahre über das reine Verlagsangebot immer mehr mit kostenlosen Informationen und Services rund um die Gebärdensprache ausgebaut. Heute findet man hier neben dem Verlag,  umfassenden Informationen und Hilfe für Eltern gehörloser Kinder, Ausbildungsmöglichkeiten für Gebärdensprache, einer bundesweiten Dolmetscherliste auch eine Liste von gehörlosen Gebärdensprachdozenten, die u.a. Hausgebärdensprachkurse anbieten.

2009 gelang dem Verlag in Zusammenarbeit mit dem Bundeselternverband gehörloser Kinder ein wegweisender Meilenstein mit dem Aufbau des weltweit größten Wörterbuches einer Gebärdensprache „Das große Wörterbuch der Deutschen Gebärdensprache“, welches unterdessen mit fast 19000 Gebärdenvideos quasi zum Standard-Nachschlagewerk für jeden Gebärdensprachanwender geworden ist. Es wird heute überall dort angewendet, wo Deutsche Gebärdensprache oder LBG benötigt und gesprochen wird. In allen hörgeschädigten Schulen, in der UK-Pädagogik, in Behinderten-Werkstätten bis hin zu Sprachtherapiepraxen wird das umfassende Wörterbuch eingesetzt, der „Kestner“ ist heute der „Duden“ der Deutschen Gebärdensprache. 2010 folgte die mobile Version als App für iOS und Android. Damit ist das Nachschlagewerk der DGS immer in der Hosentasche dabei, egal, ob auf dem Schulhof, im Bierzelt oder im Zoo.

20 Jahre, in denen sich die Welt der Gebärdensprache in Deutschland enorm stark gewandelt hat und inzwischen auch endlich in die „hörende Welt“ Einzug gefunden hat.

Wir bedanken uns für diesen gemeinsamen, gebärdensprachlichen Weg bei unseren vielen Freunden, Wegbegleitern und Kunden.

Karin Kestner & Tiemo Hollmann